Rituale – Oasen im Leben
Oasen sind wirklich erquickende Ruhepunkte im Leben. Ich habe das Bild einer Insel üppig grün wachsender Pflanzen und quellenden Wassers inmitten oder am Rande einer Wüste vor Augen. Einen Stützpunkt der Karawanen, die kommen und weiterziehen im Sinn, den Handelsplatz von Weizens, Gerste oder Hirse, Gemüse und der Früchte, der Feigen-, Aprikosen-, Granatapfelbäume und Dattelpalmen in Erinnerung. Ein bewohnter Ort der Begegnungen dort ankommender und wieder von dannen ziehender und dort bleibender dunkelhäutiger Menschen.
In der Bibel, die soviel von der nomadischen Existenzweise des Volkes Israel und von Begegnungen Einzelner am Brunnen zu erzählen weiß, findet sich die epische Erinnerung an die Schöpfung der Oase Eden. Der Namen dieses Gottesgartens leitet sich von dem hebräischen Wort für Wonne ab.
Rituale – intensive Lebensmomente
Gelingen Rituale, so haben sie etwas Paradiesisches an sich, anzukommen, aufgehoben zu sein und wieder aufbrechen zu können. Rituale lassen uns erfahren, wie solche Kommunikationsinseln an den gegenseitigen Wegunterbrechungen sein können: Da ist der Mann, der mich auf dem Bürgersteig freundlich grüßt und mich nach seinem Weg fragt, dessen Gruß ich erwidere, dem ich die Richtung zeige und einen guten Weg wünsche. Da kommt eine Frau geradewegs auf mich zu, der ich nicht auf die andere Straßenseite ausweiche, sondern die ich mit ihrem Namen grüße und der ich meine persönliche Anteilnahme am Tode ihrer Mutter zum Ausdruck bringe, eine Weile zuhöre, bevor wir einander Adieu sagen.
Eine kleine Ritual-Kunde
Solche Begebenheiten setzen dem Alltag besonnene Lichter auf. Sie geben zu erkennen, dass sich die Rituale aus einer Begrüßung, einer verbindlichen Gemeinsamkeit und einem Abschied zusammensetzen. Im Grunde gibt es nur drei Rituale, von denen sich alle religiösen Riten, Bräuche und Gewohnheiten ableiten und auf die sie sich wieder zurückführen lassen: Das Begrüßungsritual, das Gemeinschaftsritual, das Abschiedsritual.
Begrüßungsrituale
Der Ritus der Begrüßung in dem gottesdienstlichen Wechselgruß des Pfarrers mit der Gemeinde – „Der Herr sei mit euch – Und mit deinem Geist“ – zeigt die Wurzeln dieses Rituals: Die gegenseitige Anrede wird groß geschrieben. In der liturgischen Begrüßung (Salutatio) geht es um die prinzipielle Voraussetzung, überhaupt beten zu können – um die Selbstvergewisserung des Glaubens. Die beiderseitige Erinnerung an Gott und Gottes Geist begründet die gemeinschaftliche Erfahrung des Gebets.
Das eine ist, in das chorische Gebet innerhalb eine Andacht oder eines Gottesdienstes – wie in ein gesungenes Lied – einzustimmen. Psalmodierend in das große Gebetsbuch der Kirche und Synagoge, in das Vaterunser des betenden Jesus oder Ich-glaube-an-Gott (Credo) der ökumenischen Kirchen. Das andere ist, allein zu beten, Gott gegenüber Satz für Satz selbst zu formulieren. Mich hat dabei der Psalm 22 in den Versen 4 und 5 ermutigt: „Der du thronst über den Lobgesängen Israels. Unsere Väter hoffte auf dich und da sie hofften, halfst du ihnen heraus.“ Der Betende nimmt Gott bei seinem Wort und spricht ihn daraufhin an.
Gegenüber dem, was im religiösen Raum so selbstverständlich klingt, mag das Alltagsritual der Begrüßung in seinem ursprünglichen Sinn erschrecken. Der ursprüngliche Sinn des Tätigkeitswortes grüßen bedeutet: ohne jeden freundlichen Beisinn, zumeist als ein feindliches Entgegenkommen, anzugreifen. Der Gruß, der mit seinem Zeitwort den Morgen, Mittag oder Abend ansagt, zielt darauf ab, im Aufeinandertreffen die Fremdheit gelten zu lassen und doch zu überwinden.
Der Fremde, der mir heute begegnet, muss nicht unbedingt ein Wanderer sein, der heute kommt und morgen wieder weiterzieht. Der Fremde kommt heute und bleibt auch noch morgen. Sein Fremdsein besteht offenbar darin, dass der Nahe mir fern und der Ferne mir nah bleibt. Lasse ich das gelten, grüße ich ihn wie einen Gast und nehme ich den Gruß des Fremden freundlich entgegen. Von dieser Begegnung rührt die Grußsitte her, Mädchen früher einen Knicks, Jungen einen Diener machen zu lassen und selbst noch den Hut zu ziehen. Es gab eine Grußordnung, wer wann wen wie zu grüssen hatte.
Gemeinschaftsrituale
Das Gemeinschaftsritual zwischen dem Gruß- und Abschiedsritual kann beispielhaft durch das Symbol eines Bettes angezeigt sein. Das Bett kann die bloße Schlafstätte, das Lager einander zärtlich Liebender, der Ort der Gebärenden sein. Die Mutter vermag mit dem Einschlafritual am Bett ihres Kindes – durch ein Lied, eine Geschichte oder ein Gebet – das Kinderzimmer in ein Schlafzimmer zu verwandeln. Dem Gast, der über Nacht bleibt, wird sein Bett bezogen. Das Bett eines Menschen wird, wenn seine Zeit gekommen ist, zu seinem Sterbelager. Der Tote wird darauf aufgebart, um sich von ihm andächtig mit einem Psalm, Choral und Gebet verabschieden zu können.
Auch dem Tisch kommt eine ähnliche Symbolkraft des Gemeinschaftlichen zu.
An ihm setzen sich Menschen zusammen, um sich auseinandersetzen und wieder friedfertig auseinander gehen zu können. Freunde, von deren Sorgen man gehört hat, werden spontan an den Abendbrottisch gebeten, um ihnen zuzuhören, mit ihnen ihren Kummer zu teilen und zu raten, ohne gleich Bescheid zu wissen. Immer wieder verwandeln die Fest- und Feiertage des Jahres und der Kalender den Tisch in eine festliche Tafel, an der auch die vier Lebensfeste – zur Geburt (Taufe), zur Adoleszenz (Firmung bzw. Konfirmation), zur Hochzeit (Trauung) und zum Tode (Bestattung) – rituell begangen werden.
Abschiedsrituale
Das Abschiedsritual erst erlaubt, auseinander gehen, um die Begegnung wiederholen zu können. Es enthält ursprünglich einen Segenscharakter. Viel davon klingt noch im Sprachgebrauch an. Ade, Adieu, Addio und Tschüs gehen auf das lateinische ad Deum zurück und bedeuten: Ich befehle dich Gott; ähnlich Pfiat oder behüt dich Gott. Auf Wiedersehen bzw. Wiederschauen zielt einfach auf eine erneute Begegnung ab. Bis bald, die englischen Bye-bye und Cheerio sowie das italienische Ciao tragen die gleiche Bedeutung wie Gehab dich wohl, Leb wohl, Machs gut. Das lateinische Servus, drückt Ergebenheit aus: Ihr Diener.
Das Heilsame der Rituale liegt darin, dass sie archaisch sind und – ob nun religiös oder säkular erscheinend – immer Sinn stiftend. Sie bestehen bereits und auf sie ist zurückzugreifen. Sie erweisen sich als etwas objektiv Hilfreiches unabhängig vom subjektiven Befinden in den kritischen Übergängen des Lebens.
Klaus Dirschauer